Last Minute 2016

Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm" titelt Regisseur Hans-Peter Kellners ausgebufftes Spiel über die Grenzen der Theaterkunst für zwei Hitler-Darsteller und einen Goebbels. Ein idealer Slogan parallel auch für die 2016er Neuauflage von "Last Minute" im Posthof!

Bernhards "Der Theatermacher" trifft auf Eichingers "Der Untergang" in Kellners Inszenierung am Theater Nestroyhof Hamakom - eines von 5 handverlesenen Gastspielen zum Zwecke lustvollen Realitätsgewinns mittels druckvoller Themen und ungewöhnlicher Blickwinkel. 

Welche Relevanz hat Goethes Werther, jener liebeskranke Protagonist, noch in den Zeiten von Facebook, Twitter und iPhone-Kultur? Wie verträgt sich Strawinskis dramatischer Sacre-Stoff mit dem weiblichen Opfer in der modernen Familie und Gesellschaft? Und wie gehen Kinder, Küche, Kalaschnikow und das wahre Leben im IS für europäische Mädchen und Frauen zusammen, die sich Terroristen anschließen?

She She Pop, Sabine Molenaar, Philipp Hochmair / Nicolas Stemann, dieheroldfliri und Theater Nestroyhof Hamakom sind von 4. Oktober bis 9. November im Linzer Posthof auf der ungewöhnlichen Suche nach Antwort auf diese und weitere Fragen.


Programm

Last Minute 2016 | Das flexible Posthof-Abo
Di. 04.10.2016 // 20:00 Theater
dieheroldfliri
Töchter des Jihad

Der intensiv recherchierte, bittersüß unter die Haut gehende Bilderbogen über Kinder, Küche, Kalaschnikow und das wahre Leben im IS zeigt das gesamte Problemspektrum auf.

// GS (num. Sitzpl.): € 18/20/22 (Einzelpreis) // Tickets!
Last Minute 2016 | Das flexible Posthof-Abo
Sa. 15.10.2016 // 20:00 Theater
Philipp Hochmair / Nicolas Stemann
Werther!

Im ins hier und heute übersetzten Geniestreich des kongenialen Theaterduos gereicht Goethes liebeskranker Protagonist "zum Vehikel einer heulaberwitzigen Zeitreise" (Theater der Zeit).

// GS (num. Sitzpl.): € 23/25/27 // Tickets!
Last Minute 2016 | Das flexible Posthof-Abo
Di. 25.10.2016 // 20:00 Physical Theatre
Sandman / Sabine Molenaar (NL)
Touch me

Voller Zartheit, Wildheit und Intensität entwickelt die preisgekrönte holländische Performerin eine ganz eigenständige, faszinierende Bewegungssprache.

// GS (num. Sitzpl.): € 18/20/22 (Einzelpreis) // Tickets!
Last Minute 2016
Do. 27.10.2016 // 20:00 Theater
Theater Nestroyhof Hamakom
"Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm" von Theresia Walser

Bernhards "Der Theatermacher" trifft auf Eichingers "Der Untergang" im lustvoll zelebrierten Spiel über die Grenzen der Theaterkunst für zwei Hitler-Darsteller und einen Goebbels.

// MS (num. Sitzpl.): € 18/20/22 // Tickets!
Last Minute 2016 | Das flexible Posthof-Abo
Mi. 09.11.2016 // 20:00 Theater
Frühlingsopfer
aufgeführt von She She Pop und ihren Müttern

In der Übertragung ins Hier und Heute durch das legendäre Performance-Kollektiv stellt Strawinskis "Sacre" die Frage nach dem weiblichen Opfer in der Familie und Gesellschaft.

// GS (num. Sitzpl.): € 23/25/27 // Tickets!

Alle Veranstaltungen: Num. Sitzplätze, Beginn 20:00 Uhr


Was bedeutet Aktualität im Theater? Und was Politik?

Zur dritten Auflage des Last Minute Festivals, das sich ganz den zeitgemäßen Bühnenformen verschrieben hat, erwartet Sie ein bunter Reigen an Antwortmöglichkeiten.

Wie man Recherche, inhaltliche Positionierung und politischen Diskurs mit schwarzem Humor und spielerischer Leichtigkeit verbinden kann, zeigen Maria Fliri und Barbara Herold mit ihrer neuen Produktion "Töchter des Jihad". Aus einer Fülle von dokumentarischem Material (Blogs, Ratgeber, Videobotschaften des IS) wird ein Theaterabend entworfen, der der Frage nachgeht, was junge Frauen dazu bewegen kann, sich von Familie und Gesellschaft abzuwenden und in die Hände radikaler, mörderischer Ideologien zu begeben. Dabei schwingt die Realsatire immer mit und erzeugt "ein Lachen, das natürlich stets auch wieder im Hals stecken bleibt." (Kurier)

Aus feministischer Perspektive nähert sich auch ein Ensemble seinem Thema, das längst Kultstatus besitzt: das Berliner PerfomerInnen-Kollektiv She She Pop beschäftigt sich mit der Frage nach dem (erwarteten) weiblichen Opferverhalten in unserer Gesellschaft und verknüpft sie mit dem heidnischen Opferritus in Strawinskys Le Sacre du Printemps. Was hier sehr theoretisch klingt, entpuppt sich als augenzwinkernde Auseinandersetzung der SchauspielerInnen mit den eigenen Müttern. Die Faszination und der Witz dieses erfrischenden Stücks liegen in der Kombination aus fast schon hippiesker Selbsterfahrungsattitüde und den allerneuesten High-Tech-Videowalls, auf denen die Mütter mit ihren Töchtern in Kontakt treten. Geistreich, lässig, trotzdem mit Tiefgang - und unter verblüffender Verwendung der aufwühlenden Musik des Sacre.

Ganz ohne Worte findet hingegen Sabine Molenaar ihr Auslangen. Ihre ganz ungewohnte, eigenständige Körpersprache zwischen Tanz und physical theatre betört auch in ihrer neuen Arbeit Touch me das Publikum. Nichts Geringeres wird hier verhandelt als die Suche nach Intimität im Zeitalter der sozialen Medien und ihrer Entfremdungsgewalt. Atemberaubend sind Molenaars körperliche Metamorphosen, mittels derer sie in traumartige Sphären entführt, die tiefer liegen als das kognitive Bewusstsein. Ein Elementarereignis.

Weniger sphärisch, aber dafür umso lustiger, geht es in Theresia Walsers Stück "Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm" zur Sache - ein passendes Motto für das gesamte Festival. Dieser Abend bricht auch eine Lanze für die Brisanz der Komödie, den Erkenntnisgewinn, der im Lachen verborgen liegt. Unter der brillanten Regie von Hans-Peter Kellner toben sich in dieser Versuchsanordnung "für zwei Hitler-Darsteller und einen Goebbels" die Akteure lustvoll aus und ziehen alle Register ihres Könnens. Scharfsichtiger und bösartiger kann der Blick auf die Eitelkeiten der Anstalt Theater kaum ausfallen. 

Bleibt noch, einen Höhepunkt dringend zu empfehlen, der auf den ersten Blick der Aktualität, den das Festival auf seine Fahnen geschrieben hat, widerspricht. Schließlich ist die Bühnenversion von Goethes Werther mit Schauspielstar Philipp Hochmair schon zwanzig Jahre alt. Aber nichts geht über den Zauber der Dialektik: in exemplarischer Form, die nichts weiter benötigt als einen großen Mimen und einen visionären Regisseur, zeigt gerade diese Arbeit, wie zeitgemäß und aufrüttelnd, bewegend und erhellend die darstellende Kunst heute zu sein vermag.

Wilfried Steiner